Salotto wird aus dem Italienischen gewöhnlich mit Wohnzimmer übersetzt. Aber eigentlich ist es mehr, ein Salotto ist etwas erhabener als ein Salone. Wenn die Mailänder also von ihrem Salotto reden, dann meinen sie die prächtige Einkaufspassage im Herzen der Stadt, die Galleria Vittorio Emanuele, mit ihrem hohen Glasgewölbe gegen Regen und Schnee, mit ihren vier mächtigen Armen, offen zur Stadt, zu ihren Kaffeehäusern, den hübschen Geschäften, dem Ristorante Savini, unter dessen Kronleuchtern schon Giuseppe Verdi und Giacomo Puccini aßen. Die Galleria, die von Garibaldi bis Grace Kelly fasziniert hat, ist eine Reminiszenz an das 19. Jahrhundert, da man dem Kommerz noch halbe Basiliken schenkte, da das Flanieren nach einem gehobenen Rahmen verlangte. Nach einem Salotto.
Mailands öffentlicher Salon verdankt seine Entstehung dem Unternehmungsgeist der italienischen Einheitsbewegung und die finanzielle Grundlage, die den Bau ermöglichte, einer Lotterie. Mit dem Gewinn aus dem Verkauf von zwei Millionen Losen, zu zehn Lire das Stück, die unter die Leute gebracht wurden, konnte die Stadt vor mehr als 150 Jahren das realisieren, was als Prachtstraße zu Ehren des Re Galantuomo Vittorio Emanuele II und seiner Zeit überliefert werden sollte.
Vom kirchlichen zum weltlichen Weihetheater
Von Anfang an muss jedoch neben dem patriotischen Höhenflug der Sinn für das Praktische, den die Mailänder von jeher bewiesen haben mit im Spiel gewesen sein. Sie dachten sich ein Gesellschafts- und Geschäftszentrum aus, eine sichere Zuflucht für die vielen Tage, an denen es in Mailand nieselt und nebelt. Was gibt es Zuversichtlicheres als das Wissen, beinahe trockenen Fusses vom Dom bis zur Scala, vom kirchlichen zum weltlichen Weihetheater zu kommen, über eine Laufstrecke von fast zweihundert glasüberdachten Metern, von Breite und Höhe gar nicht zu reden. Das Praktische läßt sich wiederum mit dem Angenehmen verbinden, denn die Galleria ist nicht dazu gemacht, dass man sie auf einer ihrer beiden Achsen einfach durchstürmt.
Die monumentale Wegkreuzung nötigt einem das Anhalten auf. Zwar verliert hier nichts von seiner Hast, im Gegenteil, es ist, als würden alle Eigenschaften, die Mailand kennzeichnen, in diesem Riesentreibhaus noch akzentuiert. Regnet es, so ist es in der Galleria besonders düster, bequemt sich das schöne Wetter, so wird es unter dem Glasdach besonders hell. Alles mutet noch hektischer, noch lauter an als auf den Straßen, von fast gewaltsamer Betriebsamkeit. Es muss am Licht und an der Akustik liegen. Aber auch das jeder Gemütlichkeit entbehrende Ambiente trägt dazu bei, das den Klatsch, das Schaubedürfnis, die Tüchtigkeit zu entfalten scheint und ihnen Dimensionen gibt, die der emphatischen Kuppel entsprechen.
Bombardierung 1943
Für die Fremden ist die Galleria die Rettung, wenn ihre Füße sie nicht mehr tragen. Man sagt, daß keine italienische Stadt so ermüdet wie Mailand. Da wird die Galleria zur Insel, auf der man für einen Augenblick ausscheren und sich setzen kann, was meistens bei Biffi geschieht; denn auch jener Tourist, der nichts von vorbereitender Reiselektüre hält, scheint zu wissen, daß er im Biffi klassischen Galleriaboden betritt. Das Restaurant ist so alt wie die Passage selbst, die am 15. September 1867 von Vittorio Emanuele höchstpersönlich eröffnet wurde. Es fehlte damals nur das Bogenportal gegen den Domplatz. Und gerade dieses Portal, so gross, daß man den Eindruck hat, die ganze Stadt konnte darunter hindurchgeschleust werden, wurde dem Architekten der Galleria, Giuseppe Mengoni, zum tödlichen Verhängnis, er stürzte dort vom Gerüst.
Wenig tröstlich dürfte sein, dass es ihm die Bombardierung im August 1943 erspart blieb. Schwer mitgenommen wurde die 1260 Räume umfassende Galeria von den Untergeschossen bis zum vierten Stockwerk im alten Stil wiederhergestellt. Einschließlich der damit verbundenen Diskussionen über die Zweckmäßigkeit einer Werktreue bis zum letzten Nagel dauerte der Wiederaufbau sieben Jahre lang. Dekoriert wie ein Hochzeitskuchen, von Patina keine Spur, erstrahlt das Salotto der Mailänder, als wäre es gerade gestern eingeweiht worden bis zum heutigen Tag.